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2012-02-20 10:48 (Kommentare: 1)
Es gibt viele Momente und Bilder aus diesem Jahr, die sich in mein Gedächtnis eingebrannt haben und die mir immer wieder einen Schauer über den Rücken jagen. Aus Glücksgefühl, Angst, Beklommenheit oder purem Entsetzen.
Da ist der 25. Januar, an dem ich nicht zu den Demonstrationen im Zentrum ging, weil ich anderweitig verplant war. Wieder eine Demo mit einer handvoll Aktivisten, die mit Gewalt aufgelöst werden und nichts ändern würde am Status Quo dachte ich resigniert. Als ich am Nachmittag zurück ins Büro wollte und nicht hinkam, weil überall in der Stadt Proteste ausgebrochen waren und die Polizei sich immer wieder neu formieren musste, wusste ich mit einem Schlag, dass sich etwas fundamental geändert hatte. Mich traf es wie ein Schlag in die Magengrube und mich überlief ein Schauer, als ich die gesperrten Straßen überall in der Stadt sah. Ich hatte mich getäuscht, und ich war glücklich darüber.
Am 28. Januar bereitete ich mich auf die Massendemonstrationen, die für diesen Tag geplant waren, vor. In Essig getränkte Tücher und Zwiebeln gegen das Tränengas, Turnschuhe und ein genauer Plan, wo ich mich den Demonstrationen anschließen wollte. Die Innenstadt war abgeriegelt von tausenden Polizisten, keine Autos weit und breit. Nur friedliche Demonstranten, Familien mit ihren Kindern, Studenten, einfache Arbeiter, Künstler und Intellektuelle, die gemeinsam durch die Straßen marschierten und ohne Vorwarnung mit Tränengas beschossen wurden. Ich spürte den stechenden Schmerz des Gases noch Stunden später in meinem Hals. Die gesamte Stadt lag unter einer Gaswolke, denn die Demonstranten kamen aus allen Himmelsrichtungen auf das Herz der Stadt, den Tahrir-Platz zugelaufen und wurden empfangen von gewaltbereiten Einsatzkräften. Es gab etliche Tote an diesem Tag und hunderte wurden verhaftet. Doch die Demonstranten ließen sich nicht aufhalten und besetzten den Tahrir-Platz.
Am Abend sah ich im Fernsehen, wie Panzer durch die Straßen Kairos rollen. Die Polizei hatte sich komplett zurückgezogen. Es entstand ein Sicherheitsvakuum, das beängstigend war. Um sich zu schützen, formierten die Ägypter Nachbarschaftswachen. Ich werde nie vergessen, wie ich in der ersten Nacht um drei Uhr morgens aufwachte, weil vor meinem Haus geschossen wurde. Auf dem Boden kauernd überfiel mich eine Mischung aus Angst, Erstaunen und Neugier. Wie konnte sich innerhalb von 24 Stunden alles ändern? Seit dieser Zeit ist es jeden Tag eine Herausforderung, beruflich und emotional, zu erklären, was in diesem Land und mit ihm geschieht. Es ist eine Herausforderung, zum einen durch die täglich auf und hereinstürzenden Bilder nicht abzustumpfen und gleichsam aber nicht daran zu zerbrechen. Fast 1000 Menschen haben seit dem 25. Januar 2011 ihr Leben verloren, mehr als 6400 wurden teils schwer verletzt. Diese Zahlen verstecken die fürchterlichen Bilder, die wir immer wieder sehen.
Ich kann zum Beispiel das Bild von Vivian nicht vergessen, einer jungen Koptin die mit schmerzverzerrtem Gesicht auf dem Boden eines Leichenschauhauses kauert. In ihrer Hand hält sie die Hand ihres Verlobten Michael, der neben ihr liegt. Umgekommen in einer Demonstration vor dem Staatsfernsehen am 9.Oktober, die für mindestens 24 Menschen tödlich endete. Unter anderen für Michael und die Männer, die neben ihm liegen, einer mit einem bis zur Unkenntlichkeit entstellten Gesicht. Ein Panzer der Armee war in die Menschenmasse gerast und hatte etliche Demonstranten unter sich begraben.
Auch diese Bilder kann ich nicht vergessen. Sie lassen mir immer wieder den Atem stocken. Hinter jedem Toten und jedem Zivilisten, der verschleppt und gefoltert wurde oder unrechtmäßigerweise vor einem Militärgericht steht, steckt die Geschichte eines Menschen, der das Recht für sich beansprucht, in Freiheit und sozialer Gerechtigkeit zu leben. Dieses Jahr hat mich vieles gelehrt aber vor allem eins: In Deutschland leben wir alle ein sehr entspanntes Leben und unsere Sorgen finden auf extrem hohem Niveau statt. Der einzigartige Mut, die Kraft und der Wille, die mir in diesem Jahr in Ägypten vorgelebt wurden, sind eine Inspiration für mich und etwas, dass ich hoffentlich ein Leben lang nicht vergessen werde.
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Kommentar von Hassan Wardani | 2012-05-03
Dieser Blogeintrag hat mir besonders gut gefallen ya Amira ! Wir haben uns in Kairo ueber die Warnungen meiner Firma in Deutschland zum 25.1.11 lustig gemacht - aber sie wussten anscheinend mehr (bin kein Fan von Nazariyat al Muamara..)
Super Web site und keep it up ! Hassan